Den Zufall akzeptieren
Diego, 28, hat drei Jahre in einem der härtesten Gefängnisse der Welt überlebt, weil er gut Fussball spielt. In Kolumbien sucht er das ruhige Familienleben. Doch mit dem Lockdown verliert er seinen Job. Eine Geschichte über Optimismus in Zeiten der Krise

Die Namen aller Protagonisten wurden zu deren Schutz vor Repression geändert. Mitarbeit: Tiziana Amico
Seit Ende März hängt in einem Fenster von Diegos Wohnung ein Trikot der spanischen Fussballnationalmannschaft. “Zuerst war es eine Hose meines Sohnes”, sagt er, doch das Trikot sei grösser und greller. Das ist wichtig, denn: “Es zeigt, dass wir Hilfe brauchen.” Seit dem 25. März ist Kolumbien wegen COVID-19 im Lockdown. Doch die staatliche Hilfe hat es kaum bis hierher, in einen Aussenbezirk der nordkolumbianischen Grenzstadt Cúcuta, geschafft. Bald muss Diego die nächste Miete bezahlen. Woher das Geld dafür kommt, weiss er nicht
Jeden Tag fuhr Diego, 28, vor dem Lockdown hinunter, mit dem Fahrrad in das Viertel, wo es sich die Leute leisten können, in Bars Cocktails zu bestellen. Dort stand er hinter einem Tresen, mixte mal Gin Tonics, mal seinen selbstgemachten Drink “The Kiss”. Schwarz, zehn Stunden pro Tag, bezahlt im Mindestlohn plus Trinkgeld, selbst wenn er sich wegen Rückenproblemen nicht mehr alleine anziehen konnte.
Er wolle seinem Sohn Mathias eine Zukunft ermöglichen, sagt er. "Seine Geburt hat alles in meinem Leben verändert." Sie half ihm, bestimmte Leute zu meiden, Vergangenes vergangen sein zu lassen. Das Kind ist auch der Hauptgrund, warum Diego und seine Ehefrau Amanda, 23, überhaupt hierher gekommen sind.
Von Venezuela nach Kolumbien.
Von Zuhause in die Fremde.


Als die beiden ein Paar wurden, sass Diego noch im Gefängnis. Unschuldig sei er 2013 dort gelandet. "Wieso sonst sollten sie mich nach drei Jahren wieder freilassen?", fragt er. Sein Auto sei in eine Entführung verwickelt gewesen. Normalerweise würde man für sowas zwanzig Jahre lang eingesperrt. Für einen handfesteren Beweis, sagt er, müsste er sich erneut in Gefahr begeben. "Nur Gott und die, die dort waren, wissen, wie es wirklich war." Er könne bloss darum bitten, ihm zu vertrauen. "Ich glaube, man muss ehrlich sein."
Unabhängig davon, wie schuldig man ist, wenn man dort landet: Die meisten venezolanischen Gefängnisse sind überfüllt, von Gangs kontrolliert, von Gewalt und Krankheiten geplagt. 2017 entdeckten Bauarbeiter im Gefängnis, in dem auch Diego einsass, ein Massengrab. Manche der 15 Leichen hatten keine Köpfe mehr. Bereits ein Jahr zuvor berichteten Insassen des Gefängnisses davon, wie die sogenannten Pranes, die Chefs der Gefängnis-Gangs, Leichen verschwinden liessen: den Boden aufbrechen, die toten Körper verstauen, sie mit Kalk und Zement bedecken.
"Er war als Frauenheld bekannt", erinnert sich Amanda. "Doch er schenkte mir viel Aufmerksamkeit." Regelmässig schrieb er ihr über WhatsApp, regelmässig ging sie ihn besuchen. Er kochte frittiertes Hühnchen mit Reis und Kartoffeln, eine von Amandas Lieblingsspeisen. Sie habe gemerkt, dass mehr hinter der Fassade des Frauenheldes steckt. Er, was wirklich zählt: Dass jemand, trotz den Affären, trotz der Haftstrafe, noch immer hinter ihm steht. "Das Gefängnis hat Diego reifer gemacht", sagt Amanda. "Vorher war für ihn alles ein Spiel."
In Cúcuta leben sie wie alte Leute. "Wir gehen zusammen einkaufen und im Park spazieren." Sie würden sich einfach helfen, eine neue Heimat zu finden. Doch immer wieder, wenn Diego von früher erzählt, formt er aus Daumen und Zeigefinger eine Pistole.


Von der Polizei entführt
Bei einer Begegnung mit FAES, einer Sondereinheit der venezolanischen Polizei, gibt es in vielen Fällen drei Optionen.
Option 1: Du bezahlst.
Option 2: Du wirst weggesperrt.
Option 3: Du stirbst.
Auch Diego wusste das, als er, mit einer Pistole am Schädel, winselnd darauf bestand, nicht getötet zu werden. "Ich habe ein Kind", habe er wieder und wieder und wieder gesagt. Zwei Tage lang sei er in einem verlassenen Gebäude etwas ausserhalb der venezolanischen Hauptstadt Caracas eingesperrt gewesen. Sein Gesicht verdeckt. Sein Körper schmerzend von den Prügeln, die er kassiert hatte.
"Ich war so wütend auf ihn", sagt Amanda. "Wir hatten uns eine gewisse Routine erarbeitet, etwas Stabilität." All das habe Diego aufs Spiel gesetzt, als er mit einem alten Freund einen Kokain-Deal durchziehen wollte. Erst drei Monate zuvor war Mathias zur Welt gekommen. Von Anfang an habe er geahnt, sagt Diego, dass irgendetwas faul sei. Doch in Caracas, der Stadt mit einer der höchsten Mord- und Kriminalitätsraten der Welt, fällt es nicht sonderlich schwer, falsche Entscheidungen zu treffen.
"Wir brauchten das Geld", sagt Diego bloss.



Ginge es nach der UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet, hätte Diego nie in eine solche Situation kommen können. FAES wäre aufgelöst. Der Verdacht erhärte sich, sagte sie, dass die Sondereinheit für aussergerichtliche Hinrichtungen verantwortlich sei. Familien von 20 jungen Männern hätten unabhängig voneinander beschrieben, wie maskierte Beamte in Autos ohne Kennzeichen vorfuhren, in Häuser einbrachen, dort Frauen und Mädchen belästigt, die jungen Männer im Haus isoliert und erschossen hätten. An den Tatorten seien Waffen und Drogen platziert worden. Um einen Kampf vorzutäuschen, hätten die Beamten die Wände mit Einschusslöchern versehen.
Seit 2016 töteten venezolanische Sicherheitskräfte mehr als 18'000 Menschen, weil diese "Widerstand gegen die Staatsgewalt" geleistet hatten. Mehr als in Brasilien, wo sieben mal so viele Menschen leben. Michelle Bachelet befürchtet, dass FAES von den Behörden eingesetzt werden könnte, um die soziale Kontrolle aufrechtzuerhalten.
Etwas ausserhalb von Caracas, in einem verlassenen Gebäude, verhandelte Diego über den Preis für sein Leben. 20'000 US-Dollar wollten die Beamten, Diego verdiente gerade mal 40 pro Monat. Doch er erreichte zwei Dinge: die Beamten auf 1'500 US-Dollar herunterzuhandeln und Freunde im Ausland dazu zu bringen, Geld zu sammeln. Er konnte bezahlen, er kam in Freiheit. 48 Stunden lang hatte Amanda nicht gewusst, wo er war. Die gemeinsame Wohnung in Caracas haben die beiden nie mehr betreten.
Flucht in ein neues Leben
Zu Fuss kamen Amanda und Mathias im Februar 2019 nach Kolumbien, wie es seit dem Niedergang ihrer Heimat rund 1.8 Millionen andere Venezolaner taten. Sie überquerten eine der drei Brücken bei Cúcuta. Diego, ohne Pass, kam über einen der illegalen, von Paramilitärs bewachten Wege durch den Fluss an der Grenze. "Ich hatte grosse Angst", erinnert er sich. Immer wieder würden die "Paracos", wie er die Paramilitärs nennt, in der Stadt auf der anderen Seite des Flusses Namenslisten aufhängen. Wer seinen Namen lese, müsse fliehen, oder er könne bei lebendigem Leib in Stücke zerlegt werden.



In Kolumbien, vorwiegend an der Grenze zu Venezuela, wird jeden Tag ein Venezolaner ermordet. Forscher sehen die Gründe in Fremdenfeindlichkeit, in fehlendem Zugang zu Jobs und Sozialleistungen. "Die Leute wollen nicht über ihre Probleme reden", sagt Diego, "darum reden sie über Migranten." Mehrmals sei er von Fremden gefragt worden, ob er seinen Körper verkaufe. Amanda habe wegen ihrer Herkunft einen Job nicht bekommen. Die Arbeitslosigkeit im Bezirk von Cúcuta lag bereits vor dem Lockdown bei 18 Prozent. Trotzdem fand Diego Freunde. Nicht zum ersten Mal half ihm sein fussballerisches Talent.
Um seine Familie durchzubringen, hat Diego nach seiner Ankunft in Kolumbien geschmuggelt. In der Stadt auf der anderen Seite des Flusses hat er Lebensmittel und WC-Papier gekauft, über die illegalen Wege nach Kolumbien gebracht. 10'000 bis 15'000 Pesos habe er damit verdient, drei bis fünf Franken pro Tag. Doch er hat sich hochgearbeitet, ins Viertel mit den Bars, zur eigenen Wohnung, in einen neuen Freundeskreis.
Fussball für immer
September 2019, ein Derby steht an, ohne Schiedsrichter. Diegos Team gegen jenes eines benachbarten Bezirkes. "Überall, wo ich jemals war", sagt Diego, "habe ich Fussball gespielt." Dort, in Venezuela, wo er es schaffte, in der zweiten Liga und der Vorauswahl der Nationalmannschaft zu spielen. Dort, im Gefängnis, wo er in der Mannschaft der Pranes spielen durfte und es so in ihrer Gunst nach oben schaffte. Hier, in einem Aussenbezirk von Cùcuta, wo Staub im Scheinwerferlicht des Platzes tanzt, wenn er seinen neuen Freunden den Ball zuspielt.
Auf den Betonstufen zwischen dem Platz und der Strasse, wo tagsüber die Schmuggler Benzin verkaufen, wartet eine Handvoll Zuschauer auf den Spielbeginn. Auch Amanda und Mathias sind unter ihnen. Wieder und wieder kickt Diego den Ball in die Höhe. Als Kind habe er einmal aufgehört, sich die Zähne zu putzen, erzählte er kurz zuvor. Alle guten Fussballer hätten schlechte Zähne gehabt. Und Diego wollte bloss eines sein: so wie sie. Seinen Sohn hat er nach einem Profispieler benannt, "damit ihn der Name immer zum Sport treibt." Diegos Team gewinnt das Derby mit 6:4. Währenddessen marschieren auf der anderen Seite der Grenze auf Befehl ihres Präsidenten 150’000 venezolanische Soldaten auf.


Kalte Poesie
Noch im Gefängnis schloss sich Diego der Rap-Crew Free Convict, Freie Verurteilte, an. Seine ersten Texte thematisierten Gewalt, Brutalität, seinen dortigen Alltag. "Jeder muss im Leben Dinge tun, die er nicht tun will", sagt Diego. Besonders dort, wo das Böse über jeden Schritt bestimme. Die Musik habe ihm geholfen, seine Umgebung zu verarbeiten, ohne diese zu verherrlichen. "Vor dem Schreiben gab es in meinem Leben nur den Fussball." Diego hatte ein neues Ziel: besser zu werden als die anderen Insassen.
Das Gefängnis ist inzwischen Vergangenheit, die Worte zu Gewalt und Brutalität ebenso. Doch noch immer gibt es eine Umgebung, die verarbeitet werden möchte. In Cúcuta, wo hunderte andere Venezolaner auf den Strassen schlafen, wo tausende von ihnen an Essensausgaben anstehen, um nicht hungern zu müssen, schreibt Diego über das Leben als Migrant. Es sei ihm wichtig, eine andere Perspektive einzubringen, damals im Gefängnis wie heute in Cúcuta. Er möchte einen Mehrwert für die Gesellschaft schaffen, für seinen Sohn ein Vorbild sein.
"Verwandte der Migranten, die gelitten haben, geschlagen von all dem bekannten Bösen, trotz des Hungers, den wir nicht aufgegeben haben, seid ihr willkommen, die Veränderung zu sehen, die durch die Musik geschieht, indem sie das Negative ins Positive dreht."
– Auszug aus einem von Diegos Texten
In Diegos Küche liegt eine Bibel. Auf der aufgeschlagenen Seite steht: "Wenn auch tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen." Der Lockdown in Kolumbien dauert noch mindestens bis zum 1. Juli. Am stärksten trifft er Menschen in der illegallen und informellen Wirtschaft. Auch fast alle von Diegos Nachbarn haben rote Lumpen oder Tücher in ihre Fenster gehängt. "So Gott will", sagt Diego, komme alles gut. Seine Texte nennt er neuerdings "Kalte Poesie".
Eindrücke von Cúcuta im Lockdown:




Dieser Artikel wurde finanziell durch den Medienfonds ‹real21 – die Welt verstehen› unterstützt.