Sebastian Sele
Fürstentum Liechtenstein: Lesung zur Lage der Nation.
Im Kleintheater Schlösslekeller Vaduz durfte ich eine abendfüllende Lesung halten. Zum Abschluss habe ich diesen Text zur Empathie und ihren Grenzen präsentiert, der auch über Liechtenstein hinaus gültig sein dürfte.

Liechtenstein, oh, Liechtenstein,
Was habe ich mich mit dir herumgeschlagen. Dutzende meiner Texte, hunderte meiner Gespräche, tausende meiner Gedanken drehten sich um dich und darum, was du mit mir angestellt hast. Es ging um Herkunft, um Abgrenzung, um Identität. Doch irgendwann ist etwas passiert, was ich so schnell nicht für möglich gehalten hätte. Ich habe mich von dir gelöst. „Zum Redaktionsleiter hochgearbeitet“, schreiben sie in deinen Zeitungen. „Beim durchs Leben stolpern woanders gelandet“, sage ich zu mir selbst. Und doch bin ich zurückgekehrt. Zumindest für diesen einen Abend. Und vielleicht zum letzten Mal für eine ganze Weile.
Ich möchte diese, nennen wir sie mal Abschiedsworte, zum Anlass nehmen, dir ein paar Dinge mit auf den Weg zu geben. Dinge, die ich ausserhalb deiner Grenzen kennengelernt habe. Dinge, die ich innerhalb deiner Grenzen wiedergefunden habe. Doch dafür muss ich etwas ausholen. Verzeih mir bitte diesen Umweg, doch er ist wichtig für mich. Ich hoffe, du verstehst am Ende wieso:
Als sich Deutschland nach dem Dritten Reich und einem der grössten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit eine neue Grundordnung gab, sagte einer der zuständigen Völkerrechtler etwas, das das Land jahrzehntelang prägen sollte:
„Man muss auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.“
Ich weiss, du pflegst einen etwas anderen Umgang mit der Vergangenheit. Du hast Menschen, die dich an ebenjenes Nazideutschland anschliessen wollten, in deine höchsten Kreise aufgenommen, ihnen jahrzehntelang die mächtigsten Firmen und Plätze in Verwaltungsräten überlassen. Doch mir, mir erscheinen diese Worte auch heute noch so wichtig, wie sie es damals, vor gut 70 Jahren, waren. Denn woran sollen wir uns letzten Endes orientieren, wenn nicht an der Erinnerung, zu was wir als Menschen fähig sind?
Jahrzehnte später hat ein anderer Mann, der Sozialanthropologe war, ein Buch geschrieben, das sich wie so viele andere Bücher auch auf einen Satz komprimieren liesse: Wer sagt, er kennt die Wahrheit, arbeitet an nichts Anderem als an seiner eigenen Unsterblichkeit.
Oder in den eben erwähnten, etwas ausführlicheren Worten dieses Mannes:
„Wenn wir jung sind, sind wir oft verwirrt davon, dass jeder Mensch, den wir bewundern, eine andere Version davon vertritt, wie das Leben zu sein hat, was ein guter Mensch ist, wie man leben soll. Sind wir besonders sensibel, ist es sogar mehr als verwirrend. Es ist entmutigend. Die meisten Menschen folgen in dieser Situation erst den Vorstellungen einer Person, dann den Vorstellungen einer anderen – ganz abhängig davon, wer sich gerade am stärksten vor dem eigenen Horizont auftürmt. …
Aber im Verlauf des Lebens erweitert sich unsere Perspektive und all diese verschiedenen Versionen der Wahrheit erscheinen etwas pathetisch. Alle denken, sie hätten die Formel, um über das Leben zu triumphieren. Alle glauben zu wissen, was es heisst, Mensch zu sein. Und viele versuchen, Anhänger für ihr Patent zu finden.
Heute wissen wir, warum Menschen so sehr versuchen, andere von ihrem Blickwinkel zu überzeugen. Weil er mehr für sie ist ist als eine blosse Lebenseinstellung: Er ist eine Formel zur Unsterblichkeit.“
Die Worte dieses Mannes haben die Welt geprägt. Nicht nur meine, sondern auch jene eines früheren US-Präsidenten, der ihn als einen der für ihn einflussreichsten Denker bezeichnete. Doch lassen wir die Frage, was das über US-Präsidenten aussagt, vorerst mal beiseite. Bleiben wir bei den Worten: Das Leben an sich als Höhepunkt der Absurdität, in dem alle bloss nach irgendetwas suchen, das ihnen Halt und die Chance gibt, vor der eigenen Bedeutungslosigkeit zu flüchten. Mir hat das geholfen, vieles zu verstehen und manches sogar zu akzeptieren.
Doch ich weiss, du interessierst dich nur selten für die Welt da draussen und wohl noch seltener für Philosophie. Darum zurück zu dir, Liechtenstein.
Lass mich dich fragen: Was denkst du, wer in dir gerade am stärksten nach Unsterblichkeit lechzt? Wer am lautesten daran glaubt, die Wahrheit gepachtet zu haben? Wer am stärksten daran arbeitet, deine Demokratie umzubringen?
Deine eigene Wahrheit hast du in einem Schriftstück niedergeschrieben, das du Verfassung nennst. Ganz am Anfang steht dort folgender Satz: „Das Fürstentum Liechtenstein soll den innerhalb seiner Grenzen lebenden Menschen dazu dienen, in Freiheit und Frieden miteinander leben zu können.“
Dieser Satz, er erscheint banal, für einen Staat im Herzen Europas gar selbstverständlich. Und doch wurde ich etwas stutzig, als ich ihn gelesen habe. Denn er wollte meinem Verständnis von Freiheit nach nicht mit allem zusammenpassen, was mir die Menschen erzählt haben, die in dir leben.
Darum, lass mich dich noch ein paar Dinge fragen:
Wann hast du das letzte Mal jenen zugehört, die im Stillen um ihre Unsterblichkeit bangen?
Wann hast du das letzte Mal den Menschen zugehört, die in Armut leben, sich aber weigern, öffentlich dazu zu stehen, weil sie Angst vor deinen Reaktionen haben?
Wann hast du das letzte Mal den Menschen zugehört, die aus der gleichen Angst nicht zu ihren psychischen Krankheiten stehen können?
Wann hast du das letzte Mal den Menschen zugehört, die suizidal werden, weil sie sich wegen dir nicht wagen, ihre Gender-Identität auszuleben?
Wann hast du das letzte Mal den Muslima zugehört, die sich beobachtet fühlen, wenn sie mit Kopftuch auf die Strasse gehen?
Wann hast du das letzte Mal dem Theaterintendanten zugehört, der in deinem Namen widerrechtlich eingesperrt wurde, weil seine Ansichten andere sind als deine?
Hast du überhaupt schon einmal vom schwulen Asylsuchenden gehört, den deine Bürokratie an einen Ort getrieben haben soll, an dem er den Tod fand?
Entsprechen diese Erfahrungen etwa deiner Vorstellung von Freiheit?
Und vor allem: Müsste ich dich all das gar nicht fragen, wenn deine Zeitungen nicht mit politischen Parteien verstrickt wären, die am liebsten nur mehr von sich selbst hören würden?
Ich weiss, es ist unangebracht, dass genau ich dir diese Fragen stelle. Ich bin es schliesslich, der den feigen Weg gewählt hat. Ich bin gegangen. Ich habe dich zurückgelassen. Oft sage ich, wohl um die Dinge für uns beide einfach zu halten, das sei einfach so passiert. Aber das ist gelogen. Es war Teil einer sehr bewussten Entscheidung. Einer Entscheidung gegen dich, einer Entscheidung für mich. Trotzdem möchte ich, wie gesagt, einfach noch ein paar Dinge loswerden, wenn wir schon mal wieder beisammen sind. In der Hoffnung, dass du etwas davon mitnehmen willst oder kannst. In der Hoffnung, dass dir etwas davon Kraft gibt, deinen Weg zu finden und anderen den ihrigen zu ermöglichen.
Du bist es schliesslich, die in deiner Wahrheit von Freiheit schreibt, nicht ich.
Die Feinde dieser Freiheit, ich glaube nicht daran, dass sie ausserhalb deiner Grenzen leben. Ich bin überzeugt davon, sie leben mitten in dir. Dass sie dort Tag für Tag daran arbeiten, dich weniger zuhören zu lassen, dich ein wenig tauber zu machen, dir ein weiteres Stück Empathie zu rauben. Und ich bin auch überzeugt, dass es an dir liegt, sie daran zu hindern. Das erfordert Mut, das erfordert Ausdauer und es erfordert, dass alle mitmachen. Deine Politiker, deine Zeitungen, deine Bewohner.
Sie alle sind in der Verantwortung, Stellung zu beziehen, kein Verstärker für populistische Hetze zu sein. Sie aus den Leserbriefen und Artikeln zu verbannen. Ihre Gedanken nicht mitzudenken. Sich nicht mit ihren Positionen auseinanderzusetzen. Es sei denn, sie wollen sie oder ihre Mechanismen blossstellen. Denn populistische Positionen sind erstmal keine politischen Positionen. Sie sind Positionen der Faulheit, des Narzissmus, der Komplexe – und sie entstehen nie aus Liebe zu dir.

Ich bin zu dieser Überzeugung, zu diesem Teil meiner Wahrheit gelangt, weil ich genug von und über Hetzer wie die deinigen gelesen habe. Weil mir Menschen in Bukarest, London und Wien von den gleichen Fragen erzählt haben, die du dir stellst, wenn du beim UN-Migrationspakt plötzlich Hand in Hand mit Neo-Faschisten gehst. Weil ich genug mit Menschen gesprochen habe, die bloss von irgendjemandem gehört werden wollen und auf die nur die Populisten zugehen.
Und: Weil ich ohne Probleme selbst einer dieser Hetzer sein könnte, hätten mich meine Eltern ein klein wenig anders erzogen.
„Man kennt sich“, schreiben deine Tourismusverantwortlichen über dich ins Internet. Das stimmt sicherlich für die Automarke des Nachbarn und vielleicht sogar für dessen Nummernschild. Doch stimmt es auch für seine Erwartungen an dich und an das Leben, enttäuschte wie bestehende? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, es ist anstrengend, sich damit auseinanderzusetzen. Das andere Ende der Gesellschaft, die Wahrheiten anderer Menschen scheinen auch in einem Staat mit etwas über 38’000 Einwohnern Lichtjahre entfernt. Ich weiss, es ist anstrengend, weil in dieser Welt erstmal alle damit kämpfen, selbst etwas zu sein. Ich weiss, es kann peinlich sein, weil Fehler passieren und wir uns verboten haben, über Träume und Ängste zu sprechen. Ich weiss aber auch, dass in meiner Wahrheit das Zuhören und daraus lernen das einzige Mittel ist, um deinen Feinden nicht dabei zu helfen, unsterblich zu werden.
Also, liebes Liechtenstein, du hast einen 300-jährigen Geburtstag zu feiern und ich muss wieder auf den Zug. Ich hoffe, du erinnerst dich an einige meiner Worte. Daran, keine Angst zu haben und dass es in Ordnung ist, sich Fehler einzugestehen. Daran, ehrlich zu dir selbst zu sein, auch wenn es weh tut. Daran, dass du nur den Menschen zuhören sollst, die deine Aufmerksamkeit auch wirklich verdient haben. Und vor allem daran, dass du mir bitte nie mehr das Gefühl geben sollst, einen solchen Text schreiben zu müssen. Denn ich bin zwar vieles, je nach Tagesverfassung Soziologe, Journalist oder Überlebenskünstler – aber eine moralische Instanz, das bin ich mit Sicherheit nicht.
In tiefer Verbundenheit Sebastian